Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels veränderten sich auch die Kinos. Die alten, meist am Eingang zum örtlichen Markt gelegenen Double Feature Kinos, die für eine Eintrittskarte zwei Filme hintereinander anboten und als kultureller Raum für die Anwohner fungierten, mussten investitionsintensiven Multiplex-Kinos weichen. Das Zeitalter des Ein-Saal-Kinos ist vorbei, heute bieten Multiplex-Kinos eine reiche Filmauswahl an einem einzigen Ort.
Das heute verschwundeneGukje-Kino amGwanghwamun in derSeouler Innenstadt istwährend der Chuseok-Erntedankfest-Feiertageüberfüllt von Filmfans.(Sept.1962)
Wie alte griechische Statuen oder chinesische Orakelknochen, die nach einer Ewigkeit unter der Erde ausgegraben werden, haben Erinnerungen an die Vergangenheit die Eigenschaft, in dem Moment, in dem sie hervorgeholt werden, alles damit verbundene Traurige zu verlieren und nur noch ihre guten Seiten zu behalten. So ediert ein jeder, sei es ein Individuum oder eine Gruppe, die Fragmente des Lebens unter Ausschmücken zu einem bestmöglichen Gesamtbild. Dank dieser erstaunlichen Fähigkeit des Gedächtnisses bewahren wir unsere Kindheitserinnerungen auf und einige schaffen sich daraus gar ihren eigenen, heiligen Mythos. Walter Benjamins Versuch, außer in seinen Briefen das Wort 'ich“ nicht zu verwenden, erzählt von der unerfüllten Sehnsucht eines strikten und gleichzeitig furchtsam-gewissenhaften Literaturwissenschaftlers, sich von den Tricks der Erinnerung lösen zu wollen. Doch ich werde ab jetzt ganz unbekümmert Erinnerungen Revue passieren lassen, die weder besonders noch zusammenhängend sind, denn meine Absicht ist nicht, zum Kern vorzudringen, sondern die Atmosphäre an sich zu beschreiben.
Licht und Dunkelheit
Soweit ich mich erinnere, machte ich meinen ersten Kinobesuch zusammen mit meiner Mutter. Anders als gewöhnlich hatte sie sich an dem Tag besonders fein gemacht und trug eine himmelblaue Hanbok-Tracht, in der Hand hielt sie einen Sonnenschirm. Wir gingen über den kleinen Hügel, auf dem das Bezirksamt lag, und wanderten in der prallen Sonne die Schmalspur-Bahnstrecke, die sich von der Station Oido in der Stadt Siheung, Provinz Gyeonggi-do, bis zur Station Incheon erstreckte. Meiner groß gewachsenen, 38 Jahre alten Mutter hinterher laufend, warf ich ihr hin und wieder verstohlene Blicke zu, wobei ich versuchte, meine Aufregung und ein unerklärliches Gefühl der Schuld zu verbergen. Das war im Jahr 1967, ich besuchte die zweite Grundschulklasse und die Sommerferien gingen zu Ende. An dem Tag sahen wir den Zeichentrickfilm Hong Gil-dong (der koreanische Robin Hood). Laut meiner Recherche hatte der Film im Januar 1967 Premiere und allein in den ersten drei Tagen sahen ihn über 100.000 Zuschauer. Das muss wohl während der Neujahrsfeiertage gewesen sein. Im August kam er noch einmal in die Kinos. Wie sehr ich meine Mutter anbettelte, mir den Film anschauen zu dürfen, werde ich hier auslassen. Zu dieser Zeit war ich ein eifriger Leser der Children’s Chosun Ilbo, aus der ich früh erfahren haben musste, dass die in der Zeitung veröffentlichte Comic-Serie Glücksritter Hong Gil-dong von Sin Dong-u als Zeichentrickfilm herausgebracht wurde.
An den Inhalt erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber an das Kino. Der dicke, weiche Vorhang, der beim Öffnen der Eingangstür mein Gesicht streifte, der Geruch nach Schweiß und Schimmel, der aus der Dunkelheit drang, die lauwarme Luft, gemischt mit der Körperwärme der Besucher. Ich bewegte mich in die Tiefe der Dunkelheit, mit den Händen an der Wand entlang tastend, einen Fuß nach dem anderen über den Boden schiebend. Der dunkle Raum hatte einen abgetreppten Boden. Verschwommen nahm ich die Sitzreihen auf den einzelnen Stufen wahr und die Umrisse der Köpfe. Nichts schien unsere Sicherheit zu garantieren, doch Mutter führte mich ohne Schwierigkeiten zu einem leeren Platz und setzte mich hin. Über meinen Kopf verlief ein Lichtstrahl und in dem blauen Licht tanzten feine Staubkörner.
Wenn ich nach einem Film das Kino verlasse, fühle ich mich auch heute noch so, als ob ich aus dem Leib meiner Mutter gerissen und ins gleißende Licht der Straße geworfen würde. Es braucht immer eine gewisse Zeit des Umherwanderns, bis sich mein dunkles und unregelmäßig schlagendes Herz beruhigt und an die fremde Straße gewöhnt hat.
Wang Yu and Li Ching
Nach diesem denkwürdigen Erlebnis begann ich, zusammen mit Freunden die Kinos in unserem Viertel aufzusuchen. Sie befanden sich gewöhnlich in der Nähe eines Marktes. Es waren Orte vollgepackt mit Menschen und doch geheim. Auf der Leinwand spielten sich die gewagtesten Verbrechen ab und ein Melodrama um Liebe, Betrug und Rache folgte dem nächsten. Für uns Jungs, deren Zeitvertreib nur im Pfeilwurz-Ausgraben, Züge-Beobachten u.ä. bestand, waren Filme ein überwältigender und gefährlicher Trost. Auch wenn man irgendwie den Blicken der schmierigen Türsteher, die minderjährige Kunden drangsalierten, entgehen konnte, so gab es doch im rückwärtigen Teil des Saals rechts und links immer noch die für polizeiliche Filmzensur reservierten Sitzplätze. Es waren Relikte der japanischen Kolonialzeit (1910-1945), die aber auch danach noch unter dem Vorwand der Aufrechterhaltung der Ordnung im Saal eine ganze Weile erhalten blieben und an sich Angst und Unsicherheit einflößende Zeichen waren. Meistens waren diese Plätze nicht besetzt, doch sie ließen mich fragen, wie dieser Ort zum einen ein Paradies aufregender Unterhaltung sein konnte, zum anderen aber auch ein Hort der Unruhe, an dem jeder zu überwachen und kontrollieren war.
Wie dem auch sei: Wir waren gefesselt von One-Armed Swordsman (1967) mit Jimmy Wang Yu in der Hauptrolle und vergossen Tränen bei Susanna(1967) mit Li Ching. Im ersten Film verliert der Hauptdarsteller durch einen fatalen Fehler seinen rechten Arm, steigt dann aber durch hartes Selbsttraining zum Meister des einarmigen, linkshändigen Schwertkampfs auf, um den Tod seines Vaters zu rächen und die Unterstützung seines Lehrers zu vergelten. Die Story an sich war schon interessant genug, doch die traurigen, in der Dunkelheit unruhig funkelnden Augen des Hauptdarstellers Wang Yu trafen mich ins Herz. Jeder Jugendliche, der diesen Film gesehen hat, dürfte auf dem Heimweg versucht haben, Wang Yus Schwertkunst nachzuahmen - den rechten Arm im Hemd versteckt, mit dem linken ein Schwert schwingend -, um einen imaginären Feind zu besiegen.
2013 gewann Jimmy Wang Yu bei den Asia Star Awards des Busan International Film Festivals den Preis als bester Schauspieler. Der damals 69-Jährige sagte in seiner Dankesrede: 'Vielen Dank, dass Sie sich an mich erinnert haben.“ Nach ihm betrat Programmdirektor Kim Ji-seok die Bühne und soll geantwortet haben: 'Wie könnten wir Sie vergessen? So gut wie alle koreanischen Männer mittleren Alters dürften sich noch an Sie erinnern und Ihnen dankbar sein.“ Und das ist wahrlich keine Übertreibung!
Susanna beeindruckte mich auf andere Art. Bei Sonnenuntergang stieg ich auf den hinteren Hügel, von wo aus man einen Blick aufs Meer hatte, und spielte auf meiner Mundharmonika das Titellied des Films, das folgendermaßen beginnt: 'Die Sonne versinkt hinter den Westbergen, ein kühler Wind weht.“ Dabei sehnte ich mich nach den warmen, herzergreifend lieblichen Augen Li Chings.
The Ventures und The Spotnicks
Es ist nicht so, dass ich mir nur die erfolgreichen, gut gemachten ausländischen Filme angeschaut hätte. Ich kicherte mich auch oft durch billige Action-Filme oder kitschige Komödien oder ging mit Erwachsenen in Propagandafilme, wo ich dann brav klatschte, wenn alle klatschten. In Erinnerung bleibt mir Six Daughters (1967), der von einem in Seoul lebenden älteren Ehepaar erzählt, das seine im ganzen Land verstreut lebenden, verheirateten Töchter besucht. Hauptthema dieser idyllischen Familiengeschichte war jedoch Aufklärung über die rasante wirtschaftlichen Entwicklung Koreas, das Krieg und Armut hinter sich gelassen hatte und die Industrialisierung vorantrieb.
Mit Beginn der 1970er Jahre war das Kino mit seinen das Staatssystem verherrlichenden Filmen oder banalen Jugendfilmen in den Augen eines pubertierenden Mittelschülers nicht mehr der spannendste Raum. Außerdem hielt zu der Zeit der Fernseher Einzug ins koreanische Wohnzimmer und die jedes Wochenende ausgestrahlte Sendung Myeonghwa Geukjang (Meisterwerke des Films) stillte eine Zeitlang meinen Durst nach guten Filmen.
Die Nachbarschaftskinos, einst etwas schäbige Wahrzeichen am Marktviertel-Eingang, begannen dann nacheinander zu verschwinden und mit ihnen der Junge, der bei jedem Filmriss während der Vorstellung in der Dunkelheit, die sich über den Saal legte, gemeinsam mit den Erwachsenen gepfiffen und gebuht hatte. Aber wenn ich die Instrumentalstücke von The Ventures oder The Spotnicks höre, sehe ich immer noch den dürren Jungen mit ängstlichen Augen vor mir, der wie um sein Leben ins Kino rennt, auch wenn er für die Tickets sein Sparschwein schlachten muss. Wenn ein Film zu Ende ging und der Filmvorführer eilig den zweiten Film vorbereitete, spielten im Hintergrund Le Dernier Train De L'espace und Johnny Guitar von The Spotnicks. Auch Walk, Don't Runvon The Ventures mit ihrem starken und rhythmisch-fröhlichen Spiel war gut, aber das klare, an die kalten Frosthimmel Nordeuropas erinnernde, wehmütige elektronische Gitarrenspiel von The Spotnicks versetzt mich auch heute noch in überirdische Sphären. Ach, ich möchte Karelia wieder einmal hören!

Gukdo & Garam istein143-Plätze Kunstkinoin Daeyeon-dong,Busan. Das in einemruhigen Viertel gelegeneKino ist eine Bastion fürIndie- und Kunstfilme,die es kaum in die Mainstream-Multiplex-Kinosschaffen.
Zurückblickend hatte ich wohl mehr Interesse an der Musik als am Film. Die Filme, die ich in meinen in orientierungsloser Hilflosigkeit versunkenen Teenagerjahren gesehen habe, sind in meiner Erinnerung eher in Form von Musik und nicht als Handlung oder Einzelszenen gespeichert. Wenn ich an den Film The March Of Fools (1975) von Ha Gil-jong denke, höre ich die heisere, melancholische Stimme von Kim Jeong-ho. Lee Jang-hos Heavenly homecoming to stars (1974) ist untrennbar vom bittersüßen Gitarrenspiel Gang Geun-siks. Und bei It rained yesterday (1975) fällt mir zuerst das Flötenspiel von Jeong Seong-jo ein und nicht das hübsche Lächeln der Hauptdarstellerin.
Mitte der dunklen 1970er Jahre, die unter dem Stichwort 'Entwicklungsdiktatur“ zusammengefasst werden, war der cineastische Blickwinkel etwas anders und die Filme der Zeit beschrieben mit ihren Motiven des Umherirrens und der Schmerzen die Seelennöte und den Widerstand der jungen, mit Jeans und Gitarre ausgestatteten Generation. Als diese neue Strömung des koreanischen Films in den auf literarischen Vorlagen basierenden 'Hostess-Filmen“ mündeten, die Triebhaftigkeit und Sexploitation thematisierten, entfernte ich mich von der Welt des Films. Zudem gab es viele neue Unterhaltungsformen und ich wurde langsam erwachsen. Das heißt nicht, dass ich ganz aufs Kino verzichtete, aber Filme waren ab da nur noch bloße Unterhaltung bzw. eine Variante des Kulturgenusses.
Um die Zeit wuchs mein Interesse an der Poesie. Dass meine erste Gedichtsammlung folgende Zeilen enthalten, geht vielleicht auf das schlummernde Erbe meiner einstigen Filmbegeisterung zurück: 'Es wäre schön, wenn auch in Lebensmomenten wie in der TV-Serie Musik erklänge.“
Soweit ich mich erinnere, war Seopyonje (1993) von Im Gwon-taek der letzte Film, bei dem ich mit gekrümmten Schultern und vor Erwartung pochendem Herzen vor dem Dansungsa-Kino in der Schlange stand, um eine Eintrittskarte zu kaufen.
Die Nachbarschaftskinos, einst etwas schäbige Wahrzeichen am Marktviertel-Eingang, begannendann nacheinander zu verschwinden und mit ihnen der Junge, der bei jedem Filmriss während derVorstellung in der Dunkelheit, die sich über den Saal legte, gemeinsam mit den Erwachsenen gepfiffenund gebuht hatte.
Mein Sohn und ich im Kino
Zurzeit gehe ich mit meinem Sohn ins Kino. 1998 verwandelten sich die Kinos durch Investitionen des Großkapitals in Multiplex-Kinos. Das Einsaal-Kino, dem die Eleganz eines maßgeschneiderten Anzugs anhaftete, wich dem Multiplex-Kino mit einer großen, an Anzüge von der Stange erinnernden Filmauswahl. Damit wurde auch der alte Lebenszyklus eines Films von Premiere und erster Laufzeit über zweite Laufzeit bis zum Double Feature überflüssig. Doch das bedeutet nicht, dass alle Filme auf fairer Basis und gleichberechtigt miteinander konkurrieren können. Erfolgsfilme werden auf viele Kinosäle verteilt, um die Aufführhäufigkeit zu erhöhen. Andere Filmehingegen werden zwei-, dreimal am Tag zu ungünstigen Zeiten vorgeführt, bevor sie dann ganz verschwinden. Einmal erlebte ich den Luxus, dass mein Sohn und ich den ganzen Kinosaal für uns hatten. Das einzige Problem war, dass er den Film ausgesucht hatte: einen japanischen Horrorfilm.
Laut der 2015 durchgeführten Untersuchung einer Kreditkartenfirma kauften 25% der Kinobesucher nur ein Ticket, was auf eine steigende Zahl der Solo-Zuschauer hinweist. Es mag Zufall sein, doch der Wert stimmt grob mit der Zahl der Single-Haushalte überein, die das Statistikamt für 2015 mit 27,2% bezifferte. Mit dem gesellschaftlichen Wandel verändert sich zwar auch die Kinolandschaft, aber etwas hat sich nicht verändert: Diejenigen, die ins Kino gehen - sei es nun alleine oder mit anderen - sind Menschen, die zumindest nicht einfach nur zu Hause bleiben, sondern die Welt hinter den eigenen vier Wänden erleben möchten. Das bringt sie dazu, im dunklen Kinosaal gemeinsam mit ihnen fremden Menschen auf die Leinwand zu schauen. Sie haben ihre Alltagswelt satt und wollen wissen, was jenseits davon liegt. Ich hoffe nur, dass sie nach dem Eintauchen in die Welt der Illusionen und der Täuschungen nicht entmutigt in eine erstickende Welt zurückgeschleudert werden.
Lee Chang-guyDichter und Literaturkritiker
Fotos Shim Byung-woo