Nachdem Korea gemäß dem Japanisch-Koreanischen Freundschaftsvertrag von 1876 (auch als „Vertrag von Ganghwa-do“ bekannt) seine Häfen öffnen musste, erfuhr das Land abrupte soziokulturelle Umwälzungen. Ein Jahrhundert später läutet die Welle der kulturellen Globalisierung ein Zeitalter der „zweiten Aufklärung“ ein. Heutzutage, anders als vor über einem Jahrhundert, nutzen die Koreaner proaktiv digitale Medien, um ihr kulturelles Potential weltweit zu propagieren.
RM bei seiner im Namen von BTS am 24. September 2018 vor der 73. UNO-Generalversammlung gehaltenen Rede anlässlich des Starts von Generation Unlimited, einer neuen, weltweiten Initiative des Kinderhilfswerks UNICEF. Die BTS-Botschaft „Finde deine Stimme“ fand Beifall bei Jugendlichen in aller Welt. © The Chosun Ilbo
Symbolischer Höhepunkt der koreanischen Popkultur-Contents 2018 dürfte wohl die erfolgreiche TV-Serie Mr. Sunshine gewesen sein. Die Serie spielt zur späten Joseon-Zeit (1392-1910) im Kaiserreich Korea (gegr. 1897) des späten 19. Jhs, als vermehrt amerikanische, französische und japanische Schiffe in den Gewässern des als „Einsiedlerreich“ bekannten Joseon aufkreuzten. Sie hinterließ einen tiefen Eindruck, da sie ein neues Licht auf die namenlosen Kämpfer der Freiwilligentrupps warf, die ihr Leben bei der Verteidigung ihres Landes gegen die ausländischen Invasoren ließen. Was Mr. Sunshine über die Einsätze der Freiheitskämpfer hinaus Bedeutung verleiht, ist die Thematisierung der entstehenden Risse in der Gesellschaft, die die Einführung neuer Kulturprodukte aus dem Westen verursachte, sowie die damit einhergehende Bewusstseinsveränderung in allen Schichten der Gesellschaft.
Während bis dahin die meisten Filme und TV-Serien über das späte Joseon sich eines anti-japanischen Narrativs bedienten, markierte Mr. Sunshine eine deutliche Wende. Die Serie schuf die Straßen der Hauptstadt Hanyang (das heutige Seoul) mit ihren westlichen Hotels, französischen Bäckereien, japanischen Pubs und Maßschneidereien nach und porträtierte den Alltag der normalen Bürger.
Im Mittelpunkt der Serie steht eine starke, mutige Protagonistin, die einen ihrer adligen Herkunft widersprechenden Weg wählt. Verlobt mit einem von ihrer Familie ausgewählten Mann, verliebt sie sich in einen Mann namens Eugene Choi. Choi wurde als Sklave geboren und flüchtete in jungen Jahren nach Amerika, um dann einige Jahrzehnte später als Offizier der US-Marineinfanterie in der amerikanischen Gesandtschaft in Korea zu dienen. Die Heldin lernt heimlich von einem niedriggeborenen Jäger den Umgang mit dem Gewehr und jagt als Scharfschützin pro-japanische Kollaborateure. Damit verkörpert sie die unabhängigen, proaktiven Frauen der Aufklärungszeit, die sich dafür entschieden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Eine Szene aus BTS World Tour: Love Yourself in Seoul, dem Konzertfilm, der am 26. Januar 2019 in 3.800 Kinos in 95 Ländern zu sehen war. Es ist der zweite Konzertfilm von BTS nach Burn the Stage: The Movie. © Big Hit Entertainment
Ein auf Retro-Stil spezialisiertes Fotostudio in Sangyeok-dong, Daegu, das Look und Stimmung des späten Joseon-Reichs um die Wende zum 20. Jh. nachempfindet, ist ein heißer Renner unter jungen Leuten. Aufgrund der großen Resonanz wurden Filialen in Seoul and Busan eröffnet. © Studio Sankyeok
Contents mit globaler Anziehungskraft
Mr. Sunshine hat darüber hinaus noch symbolische Bedeutung in dem Sinne, als dass die Serie ein neues Paradigma für die kulturellen Contents setzt, die in der heutigen, über digitale Netzwerke verbundenen Welt der kulturellen Globalisierung verlangt werden. Die Dreharbeiten für die Serie, die mit einem Budget von sage und schreibe ca. 43 Mrd. Won (rd. 34 Mio. €) produziert wurde, konnten bereits vor der Ausstrahlung der ersten Staffel fertiggestellt werden, was im Rahmen des derzeitigen koreanischen TV-Serien-Produktionssystems kaum vorstellbar gewesen wäre. Möglich wurde dies durch Netflix, das 70 % der gesamten Produktionskosten übernahm. Die globale Medienplattform strahlte die Serie zudem zeitgleich zu Korea auf der ganzen Welt aus. Auf diese Weise veränderte Netflix die Produktions- und Konsumparameter koreanischer Serien völlig.
Die koreanische Content-Industrie befindet sich derzeit an einem neuen Wendepunkt. Die Zuschauer teilen Inhalte aus der ganzen Welt in Echtzeit über globale Plattformen wie Netflix und YouTube. Die Kulturindustrie Koreas steht daher an der Schwelle zu einer „Zeit der neuen Aufklärung“ und muss sich entscheiden, ob sie weiter auf dem Weltmarkt expandieren oder sich mit dem heimischen Markt zufriedengeben will.
Betrachtet man Mr. Sunshine aus dieser Perspektive, erscheint der historische Hintergrund der Serie umso bedeutsamer. Die Wende zum 20. Jahrhundert ist in der Geschichte Koreas zwar eine sehr spezifische Periode, enthält aber auch Elemente, die ausländische Zuschauer nachvollziehen können.
So ist z.B. das romantisierte Verlangen nach Freiheit, Frieden und Liebe, das während dieser Zeit aufkam, ein universelles Thema, das über Nationalität und Rasse hinausgeht. Daher konnte die Serie ein breiteres Publikum anlocken und größeren Zuspruch erhalten.
Diese einzigartige Zeit in der koreanischen Geschichte, in der Tradition und ausländische Kultureinflüsse aufeinander prallten, bietet den idealen Hintergrund zur Beflügelung der Vorstellungskraft eines Produzenten. So spielt z.B. auch der Film The Good, the Bad, the Weird von Kim Jee-woon in derselben Zeit. Der Regisseur interpretierte das Western-Genre auf koreanische Weise. Die im Film verwendeten imaginativen Elemente wurden durch die Konvergenz unterschiedlicher Kulturen der Zeit inspiriert, was Unterhaltungswert und Filmqualität erhöhte.
Neue Standards
Ein eklatantes Beispiel für die „zweite, neue Aufklärung“ ist das BTS-Phänomen. BTS, auch als Bangtan Boys bekannt, ist in kurzer Zeit zu internationalem Starruhm gekommen. Durch die aktive Nutzung von Social-Media-Plattformen wie YouTube kommuniziert die Boy-Band mit Fans auf der ganzen Welt und hat auf diese Weise eine „BTS ARMY“ rekrutiert, eine mächtige Fangemeinde, die alle Grenzen von Nationalität und Sprache überschreitet. Schlüssel für ihren globalen Erfolg sind Musik und Tanz, die universelle Sprache der Menschheit.
Interessanterweise stieß die globale BTS-Begeisterung auf eine anachronistische Gegenreaktion in Japan. Das Bandmitglied Jimin wurde zur Zielscheibe der Kritik rechtsgerichteter japanischer Gruppen, weil er ein T-Shirt mit Fotos der amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki trug, daneben stand ein Text zum Gedenken an die Unabhängigkeit Koreas. Ein Foto, das Jimin in dem Shirt zeigt, zirkulierte in den sozialen Medien, wo es sofort Kontroversen auslöste, die schließlich zu einer Entschuldigung der Management-Agentur der Band führte. Abgesehen von dem mangelnden Feingefühl des jungen Stars bei der Wahl seiner Kleidung bestätigte dieser Vorfall das sich wandelnde Paradigma des kulturellen Konsums im Zeitalter der globalen Vernetzung. Die Forderung des japanischen rechten Flügels, alle K-Pop-Gruppen aus den populären japanischen TV-Sendungen zu verbannen, erwies sich im heutigen, von digitalen Medien beherrschten Zeitalter, in dem Fans auf der ganzen Welt in Echtzeit reagieren, als anachronistisch.
Der Vorfall zeigt auch, dass das Zeitalter der neuen Aufklärung neue globale Standards für kulturelle Contents erfordert, die über veraltete Konzepte wie nationale und regionale Grenzen hinausgehen. Die heutige Zeit des globalen Kulturaustauschs verlangt nach Werten, die die Menschen in aller Welt teilen und nachvollziehen können, nach Werten wie Freiheit, Frieden und Koexistenz, die über Konfrontation und Wettbewerb stehen.
Blickt man auf das späte Joseon-Reich von vor hundert Jahren zurück und denkt über die damals gemachten Erfahrungen nach, wird deutlich, wofür sich Content-Produzenten von heute entscheiden müssen.
Das Poster von Mr. Sunshine, einer der größten TV-Hitserien von 2018. Die Serie beleuchtet die Kämpfe der namenlosen „Armeen der Gerechten“ im Kaiserreich Korea und beschreibt proaktive, unabhängige Frauen. Ebenfalls zu sehen sind die ersten modernen Einrichtungen in Seoul wie z.B. Hotels im westlichen Stil, Bäckereien und Schneidereien. © Studio Dragon
Neue Herausforderungen
Bohemian Rhapsody, die Filmbiografie über die britische Rockband Queen und ihren Leadsänger Freddie Mercury, ist ein weiteres Beispiel für die sich verändernde Landschaft der neuen Aufklärung und des Kulturkonsums im Zeitalter der neuen Medien. Der Film, der alle Kassenrekorde für Musikfilme brach, sorgte in Korea für noch größere Furore als in Großbritannien, dem Heimatland der Band. Sein Erfolg beruht auf den sog. „Sing-Along-Screenings“, einem neuen Kinoerlebnis, bei dem das Publikum die Hit-Songs von Queen mitsingt und dazu tanzt.
Die Content-Form ändert sich dergestalt, dass die Kreierer zwar die Inhalte produzieren, aber die Konsumenten sie vervollständigen. So wie erst das Mitsingen und Tanzen von ARMY die Auftritte von BTS vervollständigt, so war es die leidenschaftliche Resonanz des Publikums, die Bohemian Rhapsody zum perfekten Filmerlebnis machte. Die Einbindung der Konsumenten verleiht dem kulturellen Konsum unabhängig von Sprache und Land eine neue Bedeutung.
Mit dem Aufkommen neuer Medienplattformen bauen immer mehr TV-Stars sich eine Zweitkarriere als Ein-Personen-Mediengestalter auf. Mittlerweile übertreffen Star-Youtuber wie Buzzbean, Banzz und Ssin herkömmliche TV-Prominente an Einfluss und Popularität. Contents-Kreierer, die durch YouTube Starruhm erlangten, schafften den Sprung ins Fernsehen, wo sie in Unterhaltungssendungen und Werbespots auftreten. Umgekehrt versuchen sich erfahrene TV-Stars zunehmend am Erstellen von persönlichen Livestreams, was einen Machtwechsel hin zu den neuen Medien andeutet.
Die durch die neuen Medientechnologien geschaffenen digitalen Netzwerke haben ein durch kulturelle Globalisierung geprägtes Zeitalter der zweiten, neuen Aufklärung eingeläutet. Blickt man auf das späte Jo-
seon-Reich von vor hundert Jahren zurück und denkt über die damals gemachten Erfahrungen nach, wird deutlich, wofür sich die Con-tents-Produzenten von heute entscheiden müssen. Die Türen stehen bereits weit offen und der Weg ist klar vorgezeichnet. Sie werden nun nach Wegen suchen müssen, ihre eigene Kultur zu bewahren und gleichzeitig die universellen Werte der Menschheit zu verfolgen.